Leseprobe Zeitbombe von Rea Kaspa
Lesen Sie hier den Prolog und das erste Kapitel.
Ich freue mich über Ihre Meinung!
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PROLOG
Bendlerstraße 11, Berlin, Juli 1944
»Die Normandie spielt keine Rolle«, sagte von Breitenbuch eindringlich, »es muss geschehen!«
Sein Gegenüber, der Mann mit der Augenklappe, sah sich besorgt um, ob jemand der Anwesenden auf die aufgeregten Worte aufmerksam geworden war.
»Nicht so laut!« zischte von Stauffenberg, »das ist keine Frage. Neun Versuche sind fehlgeschlagen. Neun! Dieses Mal muss es klappen!«
Die Männer lehnten sich in ihre Polstersessel zurück und schwiegen, als ein Kellner den bestellten Kaffee brachte und umständlich zwei Tassen füllte.
»Danke, Heinrich«, sagte Breitenbuch in der Hoffnung, dass Heinrich, der alte Kellner, etwas schneller außer Hörweite verschwinden möge.
Dann beugte er sich wieder zu Stauffenberg vor.
»Wie weit sind die Vorbereitungen?«
»Es ist alles vorbereitet«, gab Stauffenberg Auskunft, »bis ins kleinste Detail. Oberst Wessel hat den Sprengstoff und die Zünder besorgt, Wagner hat ein Flugzeug bestellt. In knapp zwei Wochen, am 20. fliegen wir, von Haeften und ich. Am Flugplatz wird uns ein Auto erwarten, der junge Erich Becker fährt uns.«
Von Breitenbuch zog die Augenbrauen hoch, »Becker? Wer ist das nochmal?«
»Soldat beim Nachrichtendienst.«
»Ich glaube, ich weiß, wen Du meinst«, sagte Breitenbuch nach kurzer Überlegung, »groß, blond, offenes Gesicht?«
Stauffenberg nickte.
»Ist der nicht zu jung?« gab Breitenbuch zu bedenken, »der ist doch höchstens zwanzig!«
»Einundzwanzig. Autofahren kann er und mehr muss er ja nicht machen.«
»Und wenn ihm die Nerven durchgehen? Da wäre er nicht der erste!«
»Das Wichtigste«, sagte Stauffenberg eindringlich und beugte sich noch weiter vor, »ist, dass wir uns voll und ganz auf seine Loyalität verlassen können.«
»Wieso das?«
»Er hatte eine Schwester«, sagte Stauffenberg und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, »mit Down Syndrom.«
»Verstehe!« stöhnte Breitenbuch, »unwertes Leben!«
»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Stauffenberg fort, »nachdem die Schwester weggebracht worden ist, wollten die Eltern sie besuchen. In der Anstalt sagte man ihnen, das Mädchen sei gestorben. An Grippe!«
Breitenberg schnaubte verächtlich.
»Auf dem Nachhauseweg mit dem Auto waren die Eltern verständlicherweise aufgebracht. Man weiß nicht genau wie und warum, jedenfalls hatten sie einen Unfall. Tot, alle beide.«
»Verstehe«, sagte Breitenbuch wieder, »wir können wohl annehmen, dass Becker loyal ist. Und zu verlieren hat er auch nichts.«
»Keiner von uns«, pflichtete Stauffenberg ihm bei und beide nahmen einen Schluck Kaffee.
KAPITEL 1
Führerhauptquartier Wolfsschanze, Ostpreußen, 20. Juli 1944
Erich saß zum Reißen gespannt auf dem Fahrersitz des Adlers 3 Gd. Trotz des sonnigen Wetters war das Verdeck geschlossen, um unerwünschte, neugierige Blicke fernzuhalten. Im Fond prüften Graf von Stauffenberg und Oberleutnant von Haeften zum letzten Mal die Verschlüsse der Aktentasche, die anstelle von Akten zwei Kilo Sprengstoff und zwei chemische Zünder enthielt.
»Wir müssen es abblasen«, drängte Haeften, »wir haben nicht genug Zeit!«
»Auf keinen Fall«, zischte Stauffenberg zurück, »heute muss es sein, coûte que coûte!«
Seit ihnen mitgeteilt worden war, dass die Lagebesprechung unplanmäßig eine halbe Stunde früher stattfinden solle, weil Benito Mussolini zu Besuch käme, hatte sich die Nervosität der Männer beinahe ins Unerträgliche gesteigert. Ursprünglich war geplant gewesen, die Zünder noch im Auto scharf zu machen, jetzt war dafür keine Zeit mehr. Stauffenberg überlegte fieberhaft.
»Wir gehen rein«, 9bestimmte er, »drinnen sage ich, dass ich mir ein frisches Hemd anziehen muss, heiß genug ist es schließlich, und dass Sie mir dabei helfen müssen.«
»Ja«, murmelte Haeften, »das klingt glaubwürdig.«
Peinlich berührt blickte er von Stauffenbergs fehlender rechter Hand, auf seine verstümmelte linke und schließlich auf die Augenklappe, die Stauffenbergs linkes fehlendes Auge bedeckte.
»Erich«, hub Stauffenberg an.
»Herr Oberst?«
»Alles andere wie geplant: Sobald wir heraus kommen starten Sie den Motor. Wir steigen ein und Sie fahren ruhig Richtung Ausgang. Keine Eile! Wir haben fünf Minuten Zeit.«
»Jawohl, Herr Oberst!«
Stauffenberg zog einmal tief die Luft ein, dann stiegen die beiden Männer aus dem Wagen und gingen auf die Holzbaracke zu. Erich versuchte, sich ein wenig zu entspannen, was ihm aber nicht gelang. Er beobachtete den Platz vor der Baracke, in der sich gut zwanzig Männer befinden mussten. Zwanzig Männer und er, der Teufel, Hitler! Die meisten Fenster des Besprechungsraumes gingen nach Süden. Nur ein schmales Fenster zeigte nach Westen und Erich konnte keine Bewegungen hinter diesem Fenster ausmachen. Er fragte sich, wie lange er noch würde warten müssen. Die Minuten krochen dahin! Zwei Soldaten auf Motorrädern fuhren an Erichs Auto vorbei, ohne sich im Geringsten für ihn zu interessieren. Erich erlaubte sich, seine Uniformmütze abzunehmen und sich eine lange, blonde Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn zu wischen. Mit einem Blick in den Rückspiegel setzte er sich die Mütze wieder auf. Dabei fiel ihm eine Gestalt auf, die langsam auf den Wagen und auf die Baracke zukam. Die Gestalt entpuppte sich als alter Mann in ziviler Kleidung. Ohne Uniform wirkte er im Führerhauptquartier dermaßen deplatziert, dass Erich wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmen konnte. Der alte Mann befand sich nun seitlich vom Wagen und hatte den Eingang der Baracke fast erreicht, als er rüde angerufen wurde.
»He! Sie! Was haben Sie hier zu suchen?«
Der Soldat, der vor der Baracke Wache stand, hatte sein Gewehr in Anschlag genommen und bewegte sich mit eiligen Schritten auf den Mann in Zivil zu. Der schien davon wenig beeindruckt und zu Erichs Verblüffung blickte der Alte nicht zu dem Wachsoldaten, sondern direkt zu Erich ins Auto. Noch größer wurde Erichs Verwirrung, weil der Alte ihm irgendwie bekannt vorkam. Sein Gesicht wirkte so vertraut. In diesem Moment riss der Wachsoldat den Alten grob am Arm.
»Was Sie hier zu suchen haben, habe ich gefragt«, brüllte er ihn an.
Der Soldat hatte ein unangenehmes Äußeres, eng zusammenstehende, stechende Augen und eine auffällige Narbe quer über der rechten Gesichtshälfte.
»Ich möchte mich nur mit diesem jungen Mann unterhalten«, antwortete der Alte scheinbar gelassen und deutete dabei auf Erich, »stören Sie uns nicht!«
Der Wachsoldat schnappte nach Luft. Sprachlos über die Dreistigkeit des Alten stand er unschlüssig da und wusste nicht, was er tun sollte. In diesem Moment öffnete sich die Barackentür und Stauffenberg, dicht gefolgt von Haeften kam heraus.
Erich startete den Motor, der Soldat und der Alte wurden zur Seite gedrängt, als die Männer in den Wagen stiegen. Erich fuhr los. Langsam. Sie waren erst ungefähr fünfzig Meter gefahren, als Erich hörte, wie seine beiden Fahrgäste aufgeregt miteinander redeten.
»Wir hätten beide Zünder scharf machen müssen!«
»Dazu war keine Zeit!«
»Jetzt haben wir nur halbe Sprengkraft! Das reicht nicht!«
»Die Bombe steht direkt neben ihm, da reicht auch ein Kilo!«
»Aber wir wissen nicht, ob er da stehen bleibt!«
Erich trat abrupt auf die Bremse. Das konnte doch nicht wahr sein! Alles umsonst? Das Schwein sollte wieder davon kommen?
»Fahr weiter!« brüllte Stauffenberg ihn an, aber Erich hörte ihn nicht. Ihm war als hörte er ein schrilles Kreischen in seinem Kopf. Er war so entsetzt und wütend, er wollte zurück und ihn eigenhändig erwürgen!
»Komm zurück!« schrie Haeften, aber Erich war bereits aus dem Auto gesprungen und rannte den Weg zurück zur Baracke. Sie waren zweihundert Meter entfernt und Erich rannte, wie er noch nie gerannt war. Fünf Minuten! Fünf Minuten bis die Bombe explodieren würde. Aber wie viel Zeit hatten die beiden Männer gebraucht, bis sie aus der Baracke heraus gekommen waren? Erich versuchte, noch schneller zu rennen. Die Baracke kam näher. Der Alte und der Wachsoldat standen noch immer davor und diskutierten und der Soldat starrte jetzt irritiert zu Erich, stellte sich vor die Tür der Baracke und hob seine Waffe. Erich prallte in vollem Lauf in ihn hinein. Der Soldat ging zu Boden und ein Schuss löste sich, ohne jemanden zu treffen. Erich konnte sich mit Mühe auf den Beinen halten, da zerrte der Alte an ihm herum.
»Warte!«
»Loslassen!«
Aber der Alte war widerspenstig und zerrte an Erichs Jacke. Endlich gelang es Erich, sich loszureißen und die Tür zu öffnen, aber da war der Soldat schon wieder auf den Beinen und stürzte ihm nach. Gleichzeitig stürmten sie durch den kleinen Flur nach rechts auf den Besprechungsraum zu, als die Welt explodierte.
Schwarzstein bei Rasteburg
Erich erwachte allmählich. Er fühlte sich benommen. Hatte er gestern Abend so viel getrunken? Sein Kopf schmerzte und er ließ die Augen geschlossen. Irgendetwas war seltsam. Langsam dämmerte es ihm, dass er nicht in seinem Bett lag. Seine Unterlage war zwar weich, aber etwas drückte in seinem Rücken, er lag auf etwas. Er hörte Vogelgezwitscher! Erich schlug die Augen auf und sah Bäume. Schlagartig fiel ihm alles ein, die Bombe! Warum war es so still um ihn herum? Sollte da nicht Feuer sein und Schreie und ein riesiges Durcheinander? Erich erschrak. War er im Himmel? War er tot? Er setzte sich auf und sofort begann sich in seinem Kopf alles zu drehen. Da er auf den ersten Blick keine Gefahr erkannt hatte, schloss er die Augen wieder und wartete, dass der Schwindel etwas verging. Ihm war schlecht. Nach einer Weile hatte er Inventur gemacht, er hatte Kopfschmerzen, ihm war schwindelig und übel, wie bei einem starken Kater, aber davon abgesehen schien er unverletzt zu sein.
Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Er hatte auf einer dicken Baumwurzel gelegen. Er befand sich mitten im Wald und war ganz allein. Alles war still, nur die Vögel sangen.
Es war merkwürdig kalt, wie im Winter und, Erichs Herz setzte einen Schlag aus. Die Bäume hatten keine Blätter!
Wie war er bloß hierhergekommen? Er musste von der Explosion bewusstlos geworden sein und dann? Vielleicht hatte er im Koma gelegen und jetzt war bereits Winter? Und jemand, ein Arzt, hatte ihn in den Wald getragen, auf die dickste Baumwurzel weit und breit gelegt und allein gelassen, nur mit einer dünnen Jacke bekleidet. Erich stand auf und sah sich um, aber außer Bäumen gab es nichts zu sehen. Keine Bunker, keine Wege. Er hatte noch immer die Kleidung an, an die er sich zuletzt erinnerte. Es würde ihn wohl kein Krankenpfleger ein halbes Jahr in derselben Kleidung lassen. Erich konnte sich auf nichts einen Reim machen! Plötzlich stiegen ihm die Tränen in die Augen. Wo war er? Was war geschehen? Er fühlte sich entsetzlich allein und hilflos.
»Hallo!« versuchte er es halbherzig in den Wald hinein, aber natürlich erhielt er keine Antwort. Er beschloss, diesen Ort zu verlassen. Irgendwo würde er auf Menschen stoßen und irgendwie würde sich alles aufklären. Wenn er auch nicht wusste wie. Aufs Geratewohl wählte er eine beliebige Richtung und ging los.
Zu Erichs Erleichterung dauerte es nicht lange, bis er auf einen Weg stieß und er sich nicht mehr durch das Unterholz schlagen musste. Er schritt zügig aus, immerhin war ihm jetzt nicht mehr kalt. Den Temperaturen und der Fauna nach konnte es Ende Februar oder Anfang März sein. Wie war das nur möglich? Nach einer halben Stunde erblickte er in der Ferne ein Gebäude, einen Stall vielleicht. Er hielt darauf zu und bald entdeckte er einen Mann. Jetzt würde sich alles aufklären. Der Mann entpuppte sich als Schäfer, seine Schafe, vielleicht zwanzig an der Zahl, rupften am spärlichen Gras.
»Guten Tag«, grüßte Erich hoffnungsvoll.
Der Schäfer starrte Erich wortlos an. Er war seltsam gekleidet. Mit seinem langen Zottelbart, seinem Schlapphut und seinem langen, ausgefransten Mantel, der schon bessere Tage gesehen hatte, wirkte er wie eine Erscheinung aus dem Mittelalter. Jetzt fiel Erich auf, dass der Schäfer anstelle von Schuhen dicke Stoffstreifen um die Füße gebunden hatte. Der Mann rührte sich nicht, kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, er starrte Erich nur aus stechenden Augen an.
Einen verrückten Moment lang glaubte Erich, dass er es mit einer verblüffend realistischen Vogelscheuche zu tun hätte. Dann machte er einen neuen Versuch.
»Wo sind denn alle?«
Der Schäfer brauchte offenbar eine Weile, bis die Frage zu ihm durchgedrungen war, dann deutete er als Antwort zögerlich auf seine Schafe. Erich begriff, dass der Schäfer nicht ganz richtig im Kopf war. Langsam und deutlich stellte er seine nächste Frage: »Können Sie mir sagen, wie ich in ein Dorf komme?«
Nach geraumer Zeit hob der Schäfer wortlos den Arm und deutete nach Westen.
»Danke!«
Erich ging zurück zum Weg, den er verlassen hatte, und folgte ihm nach Westen. Natürlich musste er als erstes auf den Dorftrottel treffen! Er bekam allmählich Hunger, seinen Durst hatte er an einem der zahlreichen Seen stillen können. Er mochte ein bis zwei Stunden gegangen sein, als er von Ferne den Kirchturm von Schwarzstein entdeckte. Am Morgen war er mit Stauffenberg und seinem Adjutanten durch Schwarzstein gefahren und hatte die gotische Kirche mit ihrem Stufengiebel gesehen. Er interessierte sich für Architektur und hatte der kleinen Kirche einen wohlwollenden Blick zugeworfen. Bald gibt es etwas zu essen, ermunterte er sich selbst. Es war bereits früher Abend und sein Magen knurrte mittlerweile so laut, dass der Gedanke an Essen alle anderen verdrängte. Schwarzstein war ein großes Dorf, fast schon eine Kleinstadt. Er hatte noch ein paar Reichsmark in der Hosentasche und würde sich als allererstes zu einem Gasthaus begeben und etwas essen. Dabei könnte er sich umsehen und lauschen, was über das Attentat erzählt wurde, mit Sicherheit gab es kein anderes Thema.
Erich erreichte das Dorf und sah auf den ersten Blick, dass etwas anders war. Nicht nur war es ihm am Morgen viel größer erschienen, was sofort ins Auge sprang, war die Tatsache, dass die Bewohner keine Fahnen aus den Fenstern hängen ließen. Wie überall waren die Menschen verpflichtet, die langen roten Fahnen mit dem weißen Kreis und dem schwarzen Hakenkreuz an der Fassade zu haben. Natürlich war es für die meisten Menschen nicht nur Pflicht, sie taten es gerne und mit Stolz! Hier in Schwarzstein gab es nicht eine Fahne. Hieß das, dass das Attentat geglückt war? Hatten die Menschen hier, kaum das Hitler tot war, die Fahnen eingeholt? Mit weniger Schwung ging Erich weiter in das Dorf hinein und stand nach kürzester Zeit vor der Kirche. Er hätte schwören können, dass es dieselbe Kirche war und er sich also in Schwarzstein befinden musste. Andererseits war das Dorf viel zu klein und Kirchen sahen sich ähnlich. Die Kirchentür öffnete sich und ein Mann in Sutane, offensichtlich der Pfarrer, kam heraus und Erich ging zu ihm.
»Guten Tag. Können Sie mir bitte sagen, wo ich hier bin? Es sieht so aus, als ob ich mich verlaufen habe.«
Der Pfarrer, ein schmächtiger, kleiner Mann mit dünnem Hals und schütteren, grauen Haaren, sah Erich von unten bis oben an. Er machte einen verwirrten, ja fast ängstlichen Eindruck.
»Sie sind nicht von hier«, stellte der Geistliche fest.
»Nein. Wie gesagt, ich habe mich verlaufen. Wie heißt dieses Dorf, bitte?«
»Nun ja«, stotterte der Pfarrer, »Schwarzstein. Sie sind in Schwarzstein, Nahe Rastenburg.«
Erich krampfte sich der Magen zusammen. Also doch, er hatte die Kirche richtig erkannt. Aber wieso sah hier alles so anders aus?
»Maria!«
Erich fuhr zusammen. Rief der Pfarrer jetzt die Mutter Gottes an? Aber der Pfarrer sah an Erich vorbei zur Straße und winkte aufgeregt eine Frau herbei. Die ließ sich nicht lange bitten, sondern eilte neugierig herbei. Maria war eine plumpe Frau um die sechzig mit einem Kleid, dass sie vermutlich von ihrer Großmutter geerbt hatte und aus Geiz noch immer noch für gut befand.
»Maria, der junge Mann hat sich verlaufen.«
Maria beglotzte Erich ungeniert von Kopf bis Fuß.
»Na, das glaub ich wohl. Und ich denke, ich weiß auch, woher er kommt.«
Erich und der Pfarrer sahen Maria fragend an.
»Aus Karlshof!« triumphierte Maria und blinzelte dem Pfarrer verschwörerisch zu.
»Ah!«, dem Pfarrer schien ein Licht aufzugehen, »natürlich.«
Erich hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen, aber da sie jetzt weniger abweisend wirkten, entschied er sich, den Irrtum noch nicht klarzustellen.
»Kommen Sie, kommen Sie, wir kümmern uns darum, dass sie wieder nach Hause kommen«, sagte der Pfarrer.
»Aber doch nicht mehr heute Abend!« protestierte Maria, »Es fängt ja jeden Moment an zu regnen.«
Alle blickten gen Himmel, der sich finster verzogen hatte.
»Ja aber, was sollen wir denn mit ihm machen?«
»Wir können den Jungen jedenfalls nicht alleine losziehen lassen, der geht doch niemals freiwillig zurück! Also muss ihn jemand bringen und gleich sitzen alle beim Abendessen.«
»Das stimmt wohl.«
Erich sah von einem zum anderen. Er mochte es nicht sonderlich, wie sie so über ihn redeten, als ob er gar nicht da wäre. Und warum sollte er wohl nicht freiwillig zu diesem Karlshof zurück, was gab es dort, weshalb man nicht freiwillig dorthin wollte? In diesem Moment knurrte Erichs Magen laut und vernehmlich.
»Na sehen Sie«, blaffte Maria den Pfarrer an, »der Junge hat Hunger!«
Als ob damit alles entschieden wäre, wurde beschlossen, dass Maria 'den Jungen' mit zu sich nehmen und erst einmal eine 'anständige Mahlzeit verpassen' würde. Gleich war sie Erich wesentlich sympathischer und er folgte ihr widerstandslos zu ihrem Haus.
Auf dem kurzen Weg fiel Erich auf, dass einige Pferdefuhrwerke im Dorf herum standen, er entdeckte aber kein einziges Auto.
»Wilhelm!« schrie Maria beim Eintreten. Erich wunderte sich darüber, wer denn heutzutage noch Wilhelm hieß, wie der ehemalige Kaiser.
»Wilhelm, wir haben einen Gast.«
Sie betraten eine kleine Stube. Die spärliche Möblierung bestand aus einem Tisch, ein paar Stühlen und einem großen Buffet. Wilhelm saß am Tisch und las Zeitung, die er beim Eintreten Erichs und Marias senkte und den Blick auf den größten und prächtigsten Backenbart freigab, den Erich je gesehen hatte. Tatsächlich kannte Erich Backenbärte nur von alten Fotos. Er macht seinem Namen, Wilhelm, alle Ehre!
»Das ist... Ja wie heißen Sie denn überhaupt, junger Mann?« Maria stemmte empört die Hände in ihre breiten Hüften.
»Erich Becker«, beeilte Erich sich zu antworten.
»Aha! Das ist also Erich Becker. Der ist aus Karlshof abgehauen! Der arme Junge!«
»Ach du Schreck! Und dann bringst du ihn hierher zu uns?«
»Er hat Hunger!« Maria schnaufte vor Empörung. Hunger schien für sie essenziell zu sein und alles andere zu erklären. Erich stimmte ihr insgeheim zu, der guten Frau.
Wilhelm brummelte unwillig in seinen Bart, wagte aber keine offenen Widerspruch.
»Na dann setzen Sie sich mal«, forderte er Erich auf.
»Vielen Dank!«
Erich setzte sich erschöpft an den Tisch und sog begierig den Essensgeruch aus der Küche in die Nase. Wilhelm musterte ihn skeptisch und Erich lächelte verbindlich bis Maria das Essen auftrug. Es gab Kartoffeleintopf mit Schweinefleisch, er schmeckte himmlisch!
»Seit wann sind Sie denn unterwegs?« wollte Maria wissen.
»Also, ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau. Ich bin heute gegen Mittag im Wald aufgewacht. Ich bin wohl gestürzt und muss mir den Kopf angeschlagen haben, an einer Wurzel vielleicht. Jedenfalls kann ich mich an nichts erinnern.«
Diese Ausrede hatte Erich sich unterwegs zurecht gelegt und hoffte, dass sie ihn für die erste Zeit der Desorientierung helfen würde.
»Aber Ihren Namen wissen Sie noch!« warf Wilhelm ein.
»Ähm, ja, den weiß ich noch.«
Maria war aufgestanden und untersuchte umstandslos Erichs Kopf.
»Da ist keine Beule!«
»Ja, aber trotzdem. Ich erinnere mich nur noch an meinen Namen.«
Endlich ließ Maria von Erichs Haaren ab.
»Fürchterliche Frisur haben Sie! Hinten viel zu kurz und vorne viel zu lang! Haben alle in Karlshof so einen Schnitt?«
»Ich weiß nicht, ich erinnere mich ja nicht.«
»Und was Sie anhaben! Das ist so eine Art Anstaltsuniform, ja? Sieht ja fast militärisch aus.«
»Sehr merkwürdig!« grummelte Wilhelm zustimmend.
Erich wurde flau im Magen. Anstalt? Und wieso erkannten die keine normale Uniform? Er besah sich jetzt Wilhelms Kleidung näher. Normale zivile Kleidung, Hemd, Krawatte, Weste mit Taschenuhr, Hose und Jacke. Der Schnitt und der Stoff wirkte etwas altmodisch aber sonst ganz normal, jedenfalls normaler als Marias Großmutterkleid.
»Vielleicht«, erwiderte Erich unsicher.
»Na ja! Sie können im Stall übernachten. Morgen früh bringt Sie dann jemand nach Karlshof zurück. Sie werden doch nicht etwa einen Anfall bekommen heute Nacht?«
»Anfall?«
»Na diese Anfälle, die Sie haben. Sie und Ihresgleichen. Fallsucht, so nennt man das ja wohl.«
Allmählich dämmerte es Erich, was für eine Art von Anstalt es in Karlshof geben könnte, eine Anstalt für Epileptiker. Wahrscheinlich hielten Maria und Wilhelm ihn für nicht ganz zurechnungsfähig. Das könnte vielleicht hilfreich sein.
»Ich werde heute Nacht ganz sicher keinen Anfall haben, versprochen.«
Das Essen war beendet und Maria trug das Geschirr in die Küche. Wilhelm murmelte etwas von 'Abort' und verließ das Zimmer. Erich war allein. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die zusammengefaltet auf einem Stuhl lag. Er hechtete hinüber und schnappte sich die Zeitung. Da musste etwas über das Attentat stehen! Er faltete sie auseinander und blickte verwirrt auf die Schrift. Es handelte sich um einen alten Schrifttyp, wie er seit 1941 verboten war. War die Zeitung schon mehr als drei Jahre alt? Erich suchte nach dem Datum und fand es, die Zeitung stammte vom 03. März 1884!
Erich schnaubte. Das war ja wohl ein Witz! Eine sechzig Jahre alte Zeitung! Wilhelm und Maria hatten wohl ein paar Schrauben locker.
»Kommen Sie!« Wilhelm stand in der Tür, in der Hand eine alte Petroleumlampe. Erich folgte ihm nach draußen in den kleinen Stall, den er sich mit einem Pferd und zwei Kühen teilen würde. Es war angenehm warm und roch nicht allzu streng.
»Sie interessieren sich wohl für Antiquitäten«, sagte Erich und deutete auf die Laterne.
»Was? Nein!« Wilhelm guckte ihn verständnislos an. »Die Laterne kann ich Ihnen nicht hierlassen, Sie wissen schon, ruck zuck brennt hier alles.«
»Verstehe.«
Ruck zuck legt der arme Irre aus der Anstalt Feuer und brennt dir das Dach über dem Kopf nieder! Erich war leicht verärgert, aber es war nicht weiter schlimm, im Dunkeln zu bleiben. Sicher würde es genügend Licht von den Straßenlaternen geben. Erich schob sich ein paar Heuballen zusammen und nahm die Decke entgegen, die Wilhelm ihm reichte. Der Geruch verriet Erich, dass es sich um die Pferdedecke handelte. Sie wünschten sich eine gute Nacht und Erich blieb allein zurück.
Es war tatsächlich dunkel, so dunkel, dass Erich die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Es gab kein Licht von Straßenlaternen. Natürlich nicht! Erich hatte einen kurzen Moment lang vergessen, dass Verdunklungsgebot herrschte.
Er wunderte sich darüber, wie er das hatte vergessen können und dann fiel es ihm ein. Sie hatten ganz normal in der Stube gesessen, so wie früher, wie vor dem Krieg, mit Licht an und ohne Vorhänge und Jalousien vor den Fenstern.
Mein Gott, wie lange war das her? Er war sechzehn, rechnete er nach, als er zuletzt mit seinen Eltern und Edith ohne Verdunkelung in der Stube gesessen hat. Edith, die kleine, liebe Edith, immer gut gelaunt, keiner Fliege konnte sie etwas zuleide tun! Wie sehr er ihn hasste! Er betete, dass das Attentat geglückt war und die Welt von ihm befreit war! Morgen würde er es wissen. Morgen würde er auf normale Leute treffen. Morgen...
»Genug geschlafen? Die jungen Leute heutzutage, nicht zu fassen!«
Erich fuhr mit einem Ruck auf, der Stall war taghell und er sah sich drei Männern gegenüber, die ihn anglotzten und über ihn lachten.
»Los, junger Mann, aufstehen! Waschen können Sie sich da im Zuber. Wir frühstücken heute im Gemeindehaus neben der Kirche.«
Lachend zogen die Dorfbewohner davon, Erich schlug die Pferdedecke zurück und ging zum Zuber. Angeekelt blickte er ins trübe Wasser, in dem Strohhalme herum schwammen, offensichtlich die Pferde- und Kuhtränke. Schulterzuckend spritzte sich Erich etwas von dem eiskalten Wasser ins Gesicht und erschauerte. Er hatte tatsächlich lange geschlafen, tief und fest, das hatte er auch nötig gehabt nach der Anspannung. Die vergangenen drei Tage hatte er vor Nervosität kaum ein Auge zugetan.
Erich zupfte sich das Heu von der Kleidung und strich seine Uniform so gut wie möglich glatt. Er konnte es nicht riechen, aber er war sich sicher, dass er himmelweit nach Pferd stank.
Einigermaßen hergerichtet ging er zum Gemeindehaus hinüber. Er stellte fest, das es gar keine Straßenlaternen gab, die nicht hätten brennen können, das Dorf war wohl zu klein oder zu arm. Im Gemeindehaus erwartete ihn mehr als eine Überraschung, der große Raum war voll. Mindestens fünfzehn Männer und Frauen waren dort um einen gedeckten Tisch versammelt. Die Männer saßen größtenteils, die Frauen schenkten Kaffee aus und verteilten Brot. Alle hielten in ihren Bewegungen und ihren Gesprächen inne und blickten neugierig Erich entgegen. Die Überraschung war aber nicht die Versammlung selbst, sondern die Bekleidung der Leute, besser gesagt die Verkleidung. Sie alle hatten sich kostümiert und Erich hatte das Gefühl, ungebeten in eine Dorffeier zu platzen.
»Kommen Sie«, rief Maria, »setzen Sie sich!«, sie trug das altmodische Kleid vom Vortag und passte damit perfekt zu den anderen. Erich setzte sich auf dem ihm angebotenen Platz am Kopf des Tisches. Alle anderen bis auf eine junge Frau nahmen ebenfalls Platz und machten einen gut gelaunten Feiertagseindruck. Die junge Frau, die auffallend hübsch war und ein langes graues Kleid mit vielen Rüschen und Falten über ihrem Hinterteil trug, schenkte Erich lächelnd eine Tasse Kaffee ein.
»Sehr authentisch«, murmelte Erich und meinte es als Kompliment für ihr Kleid.
»Authen...?«
»Ihr Kostüm«, half Erich aus, »es wirkt sehr echt. Halten Sie ein Kostümfest ab?« wandte er sich an die Allgemeinschaft. Nach einigen Sekunden verblüffter Stille, lachten die meisten und zwei tippten sich vielsagend an die Stirn. Erich errötete und wurde zornig, aber er ermahnte sich dazu, ruhig und freundlich zu bleiben und das Spiel dieser Dorfdeppen mitzuspielen.
»Hört auf, über ihn zu lachen«, ermahnte Maria, »er kann doch nichts dafür!«
Die Tür öffnete sich und der Pfarrer huschte herein. Er setzte sich auf den letzten frei gebliebenen Platz neben Erich.
»Ein Gebet!«
Alle senkten die Köpfe und falteten die Hände, während der Pfarrer ein kurzes Tischgebet murmelte. Danach griffen alle zu Brot, Butter und Schmalz und geschäftiges Geschirrklappern hub an. Erich beugte sich zu dem Pfarrer hinüber, den er für seriöser und vertrauenswürdiger hielt, als den Rest der Versammlung.
»Sagen Sie bitte, ist das hier eine Art Kostümfest?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, mein Sohn.«
»Können Sie mir bitte sagen, welches Datum wir heute haben?«
»Natürlich«, der Pfarrer lächelte erleichtert über die Normalität der Frage. »heute ist der vierte März.«
Erich zögerte. Ach was soll es? Es hielten ihn ja ohnehin alle für unzurechnungsfähig.
»Und welches Jahr?«
Der Pfarrer, der gerade von seinem Brot abbeißen zu wollte, stockte inmitten der Bewegung.
»1884.«
»Wollen Sie mich verarschen?« rief Erich empört aus.
Sofort verstummten alle Gespräche. Die Frauen blickten ihn zurechtweisend an, die Männer warnend. Ein junger Mann stand auf und baute sich drohend auf, bis er von seinem Tischnachbarn dazu gebracht wurde, sich wieder zu setzen.
Erich konnte es nicht fassen, ein ganzes Dorf hatte sich abgesprochen, dem armen, entflohenen Irren aus dem Nachbardorf eine Komödie vorzuspielen und selbst der Pfarrer war sich dafür nicht zu schade. Was für eine unwürdige Posse!
Der Pfarrer wandte sich jetzt zu ihm.
»Sie müssen Verständnis haben! Normalerweise frühstücken wir natürlich nicht zusammen, aber heute, nun ja, wir haben fast nie einen Fremden im Dorf und die Leute sind neugierig. Das ist nicht boshaft gemeint, im Gegenteil, sie alle nehmen Anteil an Ihrem Schicksal. Sie sind ja auch gut aufgenommen worden und nach dem Frühstück helfen wir Ihnen weiter.«
Erich war etwas besänftigt.
»Nach dem Frühstück?«
»Ja, gleich nach dem Frühstück bringt Sie Heinrich Wegener mit dem Karren nach Karlshof zurück.«
»Das mache wohl besser ich«, sagte der junge Mann, der drohend vom Tisch aufgestanden war mit lauter Stimme. Zustimmendes Murmeln erhob sich. Erich wurde klar, dass sie ihm nicht über den Weg trauten und ihn vielleicht sogar für gefährlich hielten. Das Frühstück war nun keine fröhliche Veranstaltung mehr und schnell beendet. Erich tat es fast ein wenig leid, ihre Zusammenkunft in Verkleidung, um den Irren zu begaffen, so empfindlich gestört zu haben und er bedankte sich schließlich artig bei Maria, Wilhelm und dem Pfarrer.
Kurz Zeit später trottete das Pferd zwischen einsamen Wäldern und Seen den Weg entlang. Erich saß auf dem Bock rechts neben dem missmutigen, schweigsamen, jungen Mann, dessen Namen er nicht kannte. Sie waren etwa zehn Minuten unterwegs, als Erich ihn fragte, wie lange sie noch brauchen würden.
»Nicht lange. Noch zwanzig Minuten.«
Erich ballte sein rechte Faust, lehnte sich etwas zurück und spannte alle Muskeln an, dann schlug er dem jungen Mann so hart er konnte seine Faust gegen die rechte Schläfe. Der Mann wurde nach links geschleudert und Erich hielt ihn schnell am Arm fest, damit er nicht vom Kutschbock fiel.
Er brachte den bewusstlosen Mann neben sich in eine sichere Position und nahm dann die Zügel auf, um die Karre anzuhalten. Er sprang vom Bock, ging um den Karren herum und zog den schweren Mann vorsichtig herunter. Mühselig zerrte er ihn ein Stück vom Wegesrand weg und lehnte ihn in sitzender Position an einen Baum.
»Tut mir wirklich sehr leid! Hat aber bestens geklappt. Du bringst mich in keine Anstalt!«
Erich hoffte, dass der Mann keinen größeren Schaden genommen hätte, wahrscheinlich würde er sehr bald wieder zu sich kommen und Kopfschmerzen haben. Dann kam ihm eine Idee. Er beugte den Mann noch einmal vor und mühte sich, ihm die warme Wolljacke auszuziehen. Die konnte er selbst bestens brauchen.
»Tut mir wirklich, wirklich leid! Aber wir haben Krieg!«
Er sprang gut gelaunt auf den Kutschbock, zog sich die Jacke über und trieb das Pferd an. Sein Plan war, an Karlshof vorbei nach Rastenburg zu fahren. Rastenburg war eine richtige Stadt mit Bahnhof und Flughafen. Dort würde er seine Geschichte vom Schlag auf den Kopf mit vorübergehenden Gedächtnisschwund erzählen und sicherlich ins Lazarett und später zu seiner Kompanie gebracht werden. Er schätzte, dass er eine gute Stunde brauchen würde. Was gäbe er nicht um ein Motorrad!
Seine Ankunft in Rastenburg hatte Erich sich anders ausgemalt. Ganz anders!
Wie in Schwarzstein hingen keinerlei Fahnen an den Fassaden. Vor dem Rathaus war die schwarz-weiß-rote Flagge gehisst, aber nur diese. Es gab weder Autos noch Motorräder, noch nicht einmal eine Straßenbahn. Pferdefuhrwerke, Kutschen und Reiter zu Pferde beherrschten das Bild. Und alle, alle Menschen waren verkleidet!
Erich war starr vor Schreck. Die Leute warfen ihm misstrauische Blicke zu. Die gestohlene Jacke machte sich gut, aber Erich bemerkte, dass er der einzige Mann ohne Kopfbedeckung war. Als er am gestrigen Tag im Wald erwacht war, war seine Uniformmütze nicht da gewesen. Wenn schon eine fehlende Kopfbedeckung ausreichte, um die Menschen misstrauisch zu machen, wie mochte dann die Uniform unter der Jacke wirken oder der Umstand, dass er nicht im Zivil war mit Weste und Anzug, so wie alle anderen, die er sehen konnte.
Er parkte den Karren an einem Platz, wo bereits andere Fuhrwerke standen und band das Pferd an eine dafür vorgesehene Halterung. Unsicher ging er zu Fuß durch die Stadt und vermied die Blicke der anderen Passanten. An einem belebten Platz vor der Kirche fand er das Gesuchte in Form eines Jungens von vielleicht zehn Jahren, der Zeitungen zum Kauf anbot.
»Ich hätte gerne eine.«
»Macht fünf Pfennige.«
Erich kramte nach den Münzen in seiner Hosentasche und fand eine passende Münze. Schon als er die Zeitung in Empfang nahm, sah er wieder die altdeutsche Schrift. Ein Blick auf das Datum bestätigte seine schlimmste Vermutung: 04. März 1884.
War er verrückt geworden?
»Heh! Sie! Das ist kein richtiges Geld!«
Erich sah auf den Zeitungsjungen herab. »Hier, nimm Sie zurück!«
»So geht das aber nicht! Gekauft ist gekauft!«
»Du kannst die Zeitung und das Geld behalten und jetzt troll dich!«
Der Zeitungsjunge erkannte, dass mit diesem merkwürdigen Mann nicht zu spaßen war und entfernte sich einige Meter. Erich stand wie vom Donner gerührt, die Gedanken schossen nur so durch seinen Kopf, aber keiner davon ergab einen Sinn. Was er jetzt dringend brauchte, war ein Ort, wo er in Ruhe nachdenken konnte.
Er betrat die Kirche und schob sich in eine der hinteren Kirchenbänke. Hier war er genau richtig, die Kirche war fast leer und das Halbdunkel verbarg seine unpassende Kleidung. Die Ruhe und die Kälte wirkten bald etwas besänftigend auf ihn, führten aber dennoch zu keinem Gedanken, den man vernünftig hätte nennen können. Wie kann das sein, fragte er sich immer wieder. Sollte er zu Gott beten, hier an diesem Ort? Leider glaubte er nicht an Gott und ein Gebet hatte ihm noch nie weiter geholfen. Vielleicht gab es ja doch einen Gott, einen Herrscher über alles, auch über die Zeit? Blödsinn! Er hatte sich vorstellen können, im Koma gelegen zu haben und deshalb im Winter erwacht zu sein, nachdem im Sommer die Bombe explodiert ist. Aber natürlich im Winter nach dem Attentat, 1944 oder von ihm aus auch 1945. Aber doch nicht davor! Es gab nur eine logische Erklärung und vor dieser graute es Erich. Er war verrückt! Er war ein Mensch aus dem 19. Jahrhundert, der sich einbildete, in der Zukunft gelebt zu haben. In dieser entsetzlichen Zukunft mit all ihren Schrecken. Mit Hitler. Welches kranke Hirn würde sich so etwas ausmalen? Und sich dabei so normal fühlen? Unglücklich, verwirrt, aber im Großen und Ganzen normal. Nach zwei Stunden musste Erich sich eingestehen, dass er trotz der Jacke durchgefroren und in seinem Gedankenkarussell zu keinem Ergebnis gekommen war. Er beschloss, die Sache praktisch anzugehen und sich seine allernächsten Schritte zu überlegen. Sein Magen meldete sich schon wieder und er dachte, wie störend und gleichzeitig praktisch es war, vom Hunger an die einfachen Bedürfnis des Lebens erinnert zu werden. Er brauchte Essen und eine Unterkunft für die Nacht. Dafür brauchte er Geld, was er nicht hatte. Jedenfalls keine Währung, die in dieser Zeit gültig war. Er befingerte die Reichsmark in seiner Hosentasche. Er liebte sie! Gerade, als er angefangen hatte, sich für verrückt zu halten, war ihm eingefallen, dass er sich die Münzen und seine Uniform schlecht einbilden konnte. Sie waren der Beweis! Er kam aus der Zukunft!
Er durchsuchte seine anderen Taschen in der Hoffnung, etwas zu finden, dass er eintauschen könnte. Zigaretten wären gut, aber er hatte nie welche besessen. In der linken Jackentasche stieß er auf einen kleinen Stoffbeutel. Irritiert betrachtete er ihn, denn er hatte ihn noch nie gesehen. Es handelte sich um einen ungefähr zehn mal fünfzehn Zentimeter großen Beutel aus braunem Samt, der oben mit einer Kordel fest zugezogen war. Im Inneren schien sich etwas hartes und etwas knisterndes zu befinden. Bevor Erich den Beutel öffnete, dachte er gründlich nach.
Gestern Morgen, als er seine Uniform angezogen hatte, hatte sich dieser Beutel definitiv nicht in seiner Tasche befunden, das wusste er genau. Er ging die einzelnen Geschehnisse seit dem gestrigen Morgen in Gedanken durch, kam aber auf keine Lösung. Hatte ihm jemand, während er bewusstlos im Wald lag den Beutel in die Tasche gesteckt? Dann fiel es ihm ein. Der alte Mann! Der alte Mann vor der Baracke, der ihm merkwürdig bekannt erschienen war, hatte an ihm herumgezerrt. Da musste es passiert sein! Erich öffnete den Zugverband und schielte ins Innere. Er zog einen kleinen, gefalteten Bogen Papier heraus und versuchte zu erkennen, was noch im Beutel war, aber das Kirchenlicht war zu gedämpft. Vorsichtig schüttete er sich den Inhalt auf die Hand und war sprachlos. In seiner Hand glitzerte ein beachtlicher Haufen Kristalle, die wie Diamanten aussahen, und noch mehr befanden sich noch im Beutel. Da hatte er sein Geld! Es kann so einfach sein! Na gut, Geld war es nicht, aber damit ließe sich etwas anfangen, viel sogar. Sorgfältig füllte er die Diamanten wieder zurück in den Beutel und widmete sich dem Papier, das er zuerst gefunden hatte. Es handelte sich um ein einfaches Blatt, dass eng in Handschrift beschrieben war. Erich stand auf, begab sich zu den brennenden Opferkerzen, um Licht zum Lesen zu haben, und las:
Pennsylvania Railroad
New York Central Railroad
Carnegie Steel Company
Standard Oil Company
American Telephone and Telegraph Company
Morgan & Company
Maxwell-Briscoe Motor Company
Es war eine Liste. Es gab keine Anrede, keine Unterschrift, nur Namen von Firmen, amerikanischen Firmen, wie unschwer zu erkennen war. Es gab ungefähr fünfzehn Einträge, dann einen Satz: 'Achtung: 1907 und 1929 Börsenkrach!'
Es folgten acht weitere Firmennamen und schließlich ganz am Schluss eine Aufforderung: 'Finde Isabel Bolder, London!'
Erich seufzte. Das war ihm zu viel für einen Tag. Er würde später darüber nachdenken, jetzt brauchte er etwas zu essen!
Vor der Kirche stand noch immer der Zeitungsjunge, sein Stapel Zeitungen war deutlich kleiner geworden. Missmutig betrachtete er Erich, der auf ihn zukam.
»Wollen Sie jetzt Ihre Zeitung bezahlen?«
»Sei nicht so frech! Du kennst dich doch bestimmt gut aus in dieser Stadt.«
»Na sicher!«
»Kannst du mir sagen, ob es hier einen Juwelier gibt?«
»Ach, dafür haben Sie Geld!«
»Ich will nichts kaufen, sondern etwas verkaufen. Also?«
»Einen Juwelier gibt es schon, aber ich glaube nicht, dass der Ihnen was abkauft. Da sollten Sie besser woanders hin.«
»Und wohin?«
»Na ins Judenviertel. Die sind da richtig!«
Erich überlegte kurz, der Kleine schien clever zu sein.
»Bringst du mich hin? Ich kenne den Weg nicht.«
»Und was krieg ich dafür?«
»Wenn du ein bisschen Geduld hast und wartest, bis ich Geld getauscht habe, und du mir dann noch eine Gaststätte zeigst, wo man gut essen und übernachten kann und ein Geschäft, wo man Kleidung bekommt, schenke ich dir fünf Mark.«
»Schenken! Das ist harte Arbeit, dafür sollten Sie mir mindestens sechs Mark geben!«
»Na schön, sechs Mark.«
»Oder acht!«
»Übertreib es nicht, Bengel!«
»Schon gut, ich muss aber erst noch die restlichen Zeitungen im Verlag abliefern.«
Während der Junge, der Karl hieß, seine Zeitungen ablieferte, suchte Erich möglichst unauffällig einen der kleinsten Diamanten aus seinem Beutel heraus und steckte ihn in die Hosentasche. Der jüdische Händler besah sich den Diamanten gründlich mit einer Lupe und bot Erich schließlich zweihundert Mark an. Erich konnte den Wert des Geldes zu dieser Zeit nicht einschätzen, ging aber davon aus, dass der Händler ihm einen zu niedrigen Preis bot und begann zu feilschen. Sie einigten sich endlich auf vierhundert Mark, wobei der Händler einen sehr zufriedenen Eindruck machte.
»Soviel Geld habe ich nicht hier. Ich kann Ihnen jetzt einhundert Mark und einen Schuldschein geben. Morgen kommen Sie wieder und dann bekommen Sie den Rest.«
Erich willigte ein. Als nächstes suchte er, geführt von Karl, ein Geschäft für Herrenbekleidung auf. Der Verkäufer betrachtete Erichs Uniform mit entsetztem Blick und bot ihm eine große Auswahl an Hemden, Krawatten, Westen und Anzügen an.
»Schuhe und Hüte bekommen Sie natürlich nicht bei mir.«
Erich war hungrig und hatte schon lange keine Lust mehr, einen Anzug nach dem nächsten anzuprobieren. Der Verkäufer war aufmerksam und schickte seinen Gehilfen in die Stadt, um eine Auswahl an Schuhen und Hüten herbei zu bringen. Schließlich entschied Erich sich mit Unterstützung Karls für einen der schlichteren Anzüge und eine Mütze, welche er gleich anbehielt. Naserümpfend wickelte der Verkäufer ihm seine Uniform zu einem handlichen Paket. Erich wusste nicht, ob er wegen des Pferdegestanks oder der Uniform selbst die Nase rümpfte. Inklusive eines Paar Schuhe kostete ihn das fünfundvierzig Mark. Jetzt dämmerte es Erich, dass der versprochene Lohn für Karl nicht gering war. Für weitere zehn Mark sicherte er sich ein Zimmer und ein Abendessen in einer gutbürgerlichen Gaststätte und entließ Karl mit seinen üppigen sechs Mark. Für den Moment satt und zufrieden ließ er sich in sein weiches Bett fallen. Er hätte sich noch einen Schlafanzug kaufen sollen, dachte er schläfrig. Das mache ich morgen in Berlin. Als erstes muss ich mich um das arme Pferd kümmern, das steht immer noch vor der Kirche. Ich muss jemanden finden, der es zurück nach Schwarzstein bringt. So verrückt, wie ich dachte, sind die Leute da gar nicht.